Nox, der Wächter der stillen Stunde
- Needful Friends
- vor 16 Stunden
- 3 Min. Lesezeit

Kapitel 1: Das Flüstern im Dunkeln
Wenn der Tag langsam zu Ende geht und sich die Schatten wie Decken über die Welt legen, wacht Nox auf. Er räkelt sich leise im Schein der letzten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fallen, und schüttelt das bisschen Staub ab, das sich auf seinem Fell gesammelt hat. Niemand sieht es – denn alle denken, er sei einfach nur ein Teddybär. Doch Nox ist viel mehr.
Er ist der Wächter der stillen Stunde.
Um seinen Hals trägt er einen kleinen, glänzenden Dzi-Stein. Darauf eingraviert ist ein seltsames Wesen mit Hörnern, schuppigem Rücken und sanften Augen: der Qilin. Ein Zeichen für Schutz, Familie und Sicherheit.
Der Stein fühlt sich immer warm an. Und wenn man ganz fest daran glaubt, dann kann man ihn sogar leise summen hören – wie ein Herzschlag aus einer anderen Zeit.
An diesem Abend kroch eine kleine Sorge durchs Zimmer. Sie war grau, ganz still und kaum zu sehen – wie ein Windhauch, den man fast vergisst, sobald er vorbei ist. Aber Nox bemerkte sie sofort. Er öffnete ein Auge, dann das andere. Seine schwarze Schnauze zuckte leicht. „Hmm“, brummte er. „Da ist jemand wach, obwohl er schlafen sollte.“ Er sprang leise von seinem Platz am Regal – plopp – und landete auf dem weichen Teppich. Sein kleiner Körper war leicht, aber sein Herz wog schwer von all den Dingen, die er bewachte. Er tappte zum Bett. Dort lag ein Kind, ganz ruhig. Nur die Augen waren wach. Sie sahen in die Dunkelheit, suchten etwas, das nicht da sein sollte. Oder doch? „Keine Sorge“, flüsterte Nox, so leise, dass es eher ein Gefühl als ein Ton war. Er kletterte vorsichtig auf das Bett, setzte sich neben das Kissen und legte eine Tatze auf das Herz des Kindes. Der Qilin-Stein leuchtete einen Moment lang sanft auf – warm, goldig, wie eine winzige Flamme in der Nacht. Und die Sorge? Sie schmolz dahin, wie Nebel im Morgensonnenlicht. Und so saßen sie dort.
Der Bär und das Kind.
Und während draußen die Nacht ihr dunkles Kleid über die Welt breitete, begann Nox zu erzählen.
Von Wäldern aus Sternenstaub.
Von Tieren, die leuchten konnten.
Von einem Baum, in dessen Ästen Träume wuchsen wie Früchte.
Aber das ist eine andere Geschichte. Und sie beginnt morgen Nacht.
Kapitel 2: Das verlorene Traumlicht
Die Nacht war still. So still, dass man das Summen der Sterne hören konnte, wenn man ganz genau lauschte. Nox saß noch immer auf dem Bett, sein Kopf leicht zur Seite geneigt, der Dzi-Stein auf seiner Brust leuchtete matt im Dunkeln. Das Kind neben ihm war eingeschlafen, ruhig, friedlich – ganz so, wie es sein sollte. Doch draußen, irgendwo hinter dem Fenster, war etwas nicht in Ordnung. Ein flackerndes Licht huschte durch den Garten. Erst ganz schwach, dann stärker – wie eine kleine Flamme, die sich verlaufen hatte.
Nox spürte es sofort.
Er legte dem Kind die Decke etwas fester über die Schultern, kletterte lautlos vom Bett und tappte zum Fenster. Seine kleine schwarze Schnauze drückte sich leicht gegen die Scheibe. Da war es: ein Traumlicht, das den Weg verloren hatte.
Was ist ein Traumlicht?
Ein Traumlicht ist ein zartes Wesen aus Licht und Wärme. Es wird aus den Wünschen gemacht, die Kinder vor dem Einschlafen denken – aber nie laut aussprechen.
Manchmal fliegen diese Lichter durch den Raum, auf der Suche nach einem Platz im Traum des Kindes.
Und manchmal verirren sie sich – wie dieses hier. Nox öffnete leise das Fenster, sprang auf die Fensterbank und ließ sich mit einem Satz in den Garten fallen. Das Moos unter seinen Pfoten war kühl, die Nachtluft roch nach Lavendel und Regen.
„He, du!“, brummte Nox leise.
Das Licht zitterte kurz und versteckte sich hinter einem Blumentopf. „Keine Angst“, sagte Nox. „Ich bin Nox. Wächter der stillen Stunde. Traumlicht-Retter. Sorgen-Schlucker. Und Geheimnisträger.“ Langsam kam das kleine Licht wieder hervor. Es war rund wie ein Tropfen, gelblich-weiß, mit winzigen, glitzernden Flügeln. „Ich hab den Weg verloren…“, flüsterte es traurig. „Dann bring ich dich nach Hause.“
Der Weg zurück.
Nox nahm das Licht vorsichtig auf seine Tatze. Es kitzelte ein bisschen – wie Seifenblasen auf der Haut. Gemeinsam stapften sie durch den Garten, vorbei am leise plätschernden Brunnen, über die Steine, die im Mondlicht glitzerten, bis zurück ans Fenster. Nox kletterte wieder hinein, das Licht sicher an der Brust. Es wurde warm – ganz warm – als das Licht das Kind sah. Es löste sich aus Nox’ Tatze, schwebte langsam zum Kopfkissen und senkte sich in den Schlaf. Für einen Moment war alles still. Dann sah Nox, wie ein kleines Lächeln über das Gesicht des Kindes huschte.
Zuhause.
Nox kletterte wieder an seinen Platz. Er blickte hinaus in die Nacht, den Dzi-Stein um den Hals, der nun ganz ruhig und kraftvoll glühte. Noch eine Sorge weniger. Noch ein Traum gerettet. Er nickte zufrieden und flüsterte: „Wieder gut gemacht.“ Dann schloss er die Augen – bis zur nächsten stillen Stunde.
Eine Geschichte von Lisa-Marie Fohmann

Comments